Wie werden digitale Spuren des Musikhörens genutzt und ausgewertet?

Veröffentlicht von Martin Lücke am

Ein langer Arbeitstag geht zu Ende, die Stunden im Büro waren aufreibend und stressig, dann auch noch Stau auf der Autobahn oder eine Verspätung der S-Bahn. Es regnet, es stürmt. Zuhause angekommen, die Jacke noch auf den Schultern, folgt ein erster, inzwischen nicht selten gesagter Satz: „Hey Alexa, spiel was Schönes!“ Und schon spielt der mit dem Alexa-Ruf aufgeweckte Smart Speaker, der in mehr und mehr Haushalten Einzug hält, die für diesen Augenblick passende Musik. Neben dem von Amazon vertriebenen Smart Speaker namens Alexa sind auch weitere Geräte dieser Art von Google oder Apple vorhanden, die mit anderen Rufnamen angesprochen werden, u.a. Siri. Laut Umfrage waren bereits 2019 in 30% aller Haushalte in Deutschland Smart Speaker vorhanden. Der weltweite Absatz wird sich zwischen 2018 und 2023 mehr als verdoppeln.

Diese kurz skizzierte Situation, die exakt so in unserem Alltag vorkommen kann, ist der Aufhänger für die vom vorliegenden Artikel zu beantwortende Frage, welche digitalen Spuren Nutzer*innen beim Konsum digitaler Musikquellen zum einen hinterlassen, und wie diese zum anderen von den Anbietern, beispielsweise von Musikstreamingportalen wie Spotify und Co., ausgewertet und genutzt werden können.

Digitaler Musikkonsum: ein (kurzer) Überblick

Der Konsum von Musik, das Rezeptionsverhalten der Nutzer*innen, wie auch die gesamte Musikwirtschaft haben in den letzten annähernd 25 Jahren einen massiven Wandel erfahren. Die damit einhergehenden tiefgreifenden Veränderungen althergebrachter Geschäftsmodelle, die auch zahlreiche ehemals bekannte Unternehmen der Musikwirtschaft in die Insolvenz geführt hat, ist inzwischen hinlänglich beschrieben und dokumentiert worden . Waren lange Zeit die großen Tonträgerunternehmen wie Universal Music, Sony Music und Warner Music die zentralen Player einer immer globaler agierenden Musikwirtschaft, sind es heute ehemals branchenfremde Akteure wie beispielsweise Apple (iTunes und Apple Music), Google (YouTube), Amazon (Amazon Music) oder eben Spotify, die große Teile des Marktes bestimmen und die zentrale Anlaufstellen für den Musikkonsum geworden sind .

Der viel zitierte Wandel der Musikwirtschaft verursachte aber auch einen massiven Rückgang der erzielten Umsätze, der am Beispiel des deutschen Musikmarktes kurz veranschaulicht werden kann: Ausgehend vom Höchststand im Jahr 1998 (2,7 Mrd. € zu Endverbraucherpreisen) sanken die Umsätze bis 2012 kontinuierlich auf nur noch ca. 1,4 Mrd. €, das entsprich annähernd einer Halbierung. Erst seit diesem Zeitpunkt – zeitgleich mit dem Aufkommen von global agierenden Musistreaminganbietern auf dem deutschen Markt – ist ein langsames Umsatzwachstum des Gesamtmarktes zu konstatieren. Im zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels bislang letzten Auswertungsjahr 2020 stiegen die Umsätze zwar auf 1,8 Mrd. €, liegen aber noch immer deutlich hinter dem Höchststand von 1997 zurück .

Das spürbare Umsatzwachstum der letzten Jahre ist dabei vor allem auf die neue Dominanz des Musikstreamings zurückzuführen. Dazu ein kurzer Exkurs: In Deutschland dominierte, im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich, Schweden oder den USA, noch lange Zeit in der beim alltäglichen Musikhören der physische Tonträger, vor allem die CD. Die Online-Musiknutzung (Downloads, Streaming) führte hingegen verhältnismäßig lange ein Nischendasein. Inzwischen ist dieser Trend gebrochen; 2020 machte der Anteil der Online-Musiknutzung mehr als 70 Prozent des Umsatzvoluments aus, davon der Großteil durch Streaming. Lag der Umsatz durch Streamingservices 2013 gerade einmal bei 61 Mio. €, stieg dieser 2020 auf 1,133 Mrd. €. Und auch die Zahl der abgerufenen Streams hat sich im selben Zeitraum von 5,9 Mrd. auf knapp 140 Mrd. erhöht. Marktführer in diesem für die Musikindustrie wichtigsten Umsatzsegment ist das schwedische Unternehmen Spotify. Weltweit verfügt Spotify über 345 Mio. monatlich aktive Nutzer*innen und 155 Mio. Premium-Nutzer*innen – Tendenz steigend. Daneben sind aber auch Apple Music, Amazon Prime Music oder Deezer weitere international agierende Anbieter im wachsenden Streamingmarkt, die ein vergleichbares Geschäftsmodell aufweisen .

Musik, zerlegt und analysiert

Dank der Streamingtechnologie ist Musik inzwischen ein ständiger Begleiter. Das sogenannte Weltrepertoire von mehr als 60 Mio. Musikstücken ist auf jedem digitalen Endgerät mit Streamingzugang in jeder Situation, zu jeder Zeit abrufbar. Und dabei hinterlassen die Nutzer*innen Spuren – wie bei allen Internetseiten, Social Media Plattformen oder Apps- darüber welcher Song gehört wurde, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit, wann geskippt wurde etc.. Marktführer Spotify setzt dabei – wie die anderen Marktteilnehmer auch – auf einen ausgeklügelten, stetig angepassten Algorithmus, um verschiedenen Daten – die der Nutzer*innen aber auch die der Musikstücke – miteinander zu verbinden, um den Nutzer*innen individuelle und passende Musik vorzuschlagen.

Grundlage des stetig weiterentwickelten und veränderten Algorithmus ist das 2005 gegründete Start-up The Echo Nest, das 2014 von Spotify übernommen wurde und Billarden von Daten jedes existierenden Songs besitzt .

Letztlich basiert der hier exemplarisch erläuterte Spotify-Algorithmus auf drei datenbasierten Analyseschritten:

  1. Jeder aktive Nutzer besitzt ein sogenanntes Taste Profile, das anhand des individuellen Konsums erstellt und mit dem gesamten Repertoire des Anbieters abgeglichen wird.
  2. Der auf The Echo Nest basierende Audio Scan analysiert in Millisekunden den gespielten Song nach zahlreichen musikalischen Einzelparametern wie Tonhöhe, Tempo, Klangfarbe etc. und weist den daraus erstellten Zahlenreihen Beschreibungen wie traurig, melancholisch, freudig etc. zu.
  3. Eine Texterkennung scannt täglich Millionen von musikbezogenen Postings auf Blogs, Webseiten etc., in denen sich aktive Nutzer*innen über Musik äußern.

Am Ende verteilt The Echo Nest die unzähligen Einzelinformationen in eine Genrematrix, den sogenannten Echo Tree, in dem aktuell ca. 1.500 vermeintliche und tatsächliche Genres zueinander in Beziehung stehen. Eine detaillierte Darstellung inkl. Klangbeispielen des Echo Trees ist auf der Webseite https://everynoise.com einsehbar.

Ziel dieser detaillierten KI-unterstützten Analyse ist die vollständige Integration der gestreamten Musik in den Alltag der User*innen. In Verbindung mit GPS-Daten und anderer Sensoren aktueller Smartphonemodelle erkennt der entsprechende Streamingservice, welcher Wochentag heute ist (Arbeitstag oder Wochenende), ob die Nutzer*in joggt, oder vielleicht irgendwo sitzt oder liegt – und kann so die für die Nutzer*in individuell passende Musik (je nach Situation und Stimulation) vorschlagen bzw. abspielen .

Konsequenzen der algorithmischen Analyse

Der Nutzen dieser KI-basierten Analyse für die Kund*innen des Streamingportals sind – aus Sicht der Anbieter – passgenaue Empfehlungen der individuellen Playlist, ein nicht enden wollender Strom von Songs, die dem (vermeintlich, aus den Daten analysiertem) Geschmack des Individuums entsprechen. Denn: die meisten Kund*innen nutzen Streaming passiv, vergleichbar dem Hörfunk, ohne aktiv nach bestimmten Songs, Künstler*innen oder Genres zu suchen. Für diese Nutzer*innengruppe sind die algorithmisch erzeugten Playlists eine Art individualisiertes Radioprogramm. Die eingangs beschrieben Szene, Alexa solle etwas „Schönes“ spielen, wird nun klarer, denn je intensiver die Beschäftigung mit dem Gegenstand Musik ist, desto mehr Datenpunkte sind dem Algorithmus bekannt, und je eher kann das für das Individuum „Schöne“ gespielt werden.

Allerdings führe diese Art der Nutzung dazu, so Ratliff , dass sich Nutzer*innen musikalisch nicht weiterentwickeln könnten. Zudem haben es aufgrund der algorithmischen Fokussierung auf bereits Bekanntes insbesondere neue Künstler*innen mit ggf. auch neuen musikalischen Strömungen schwer, überhaupt entdeckt zu werden. Dies ist sicherlich einer der Gründe dafür, warum inzwischen alle Streamingservices nicht nur auf algorithmisch kreierte Playlists setzen, sondern zusätzlich auch durch Menschen kuratierte Listen anbieten, um auch neuen Künstler*innen bzw. Genres ein Forum zu bieten – die damit dann selbst wieder Teil algorithmischer Empfehlungen werden können.

Auch die Musiklabels, welche in der Regel noch immer die Ersteller des durch Streamingservices genutzten Content sind, können die durch die Nutzer*innen hinterlassenen Daten für ihre eigene Marktforschungsanalyse gezielt einsetzen. So wissen die Labels dadurch nicht nur, wie oft ein Song gestreamt wurde (was für die Abrechnung wichtig ist), wo sich die Nutzer*innen befanden (was für die Planung von Konzerttourneen genutzt werden kann), sondern auch, ob und wann die Hörer*innen einen Song skippen, also abbrechen, um zum nächsten zu gelangen. Diese Daten können Aufschluss darüber geben, ob z.B. eine neue, unbekannte Gesangsstimme etc. bei den Streamingnutzer*innen ankommt – oder eben auch nicht. Aus Sicht der Labels können auf diese Art und Weise kostspielige Experimente vermieden werden, aus Sicht der Konsument*innen kann dies aber auch zu einer Vereinheitlichung des musikalischen Angebots führen. Schließlich sind Labels nicht einfach nur Institutionen, die Musikkultur vermitteln, sondern vor allem Wirtschaftsunternehmen, die mittels des durch sie produzierten und distribuierten Content Gewinne erwirtschaften müssen. Zahlungen an die Labels werden durch die Streamingservices aber erst ab einer Spieldauer von mindestens 30 Sekunden pro Song ausgeschüttet.

Zusammenfassung

Letztlich bleibt die Antwort auf die Frage, welchen kulturellen Nutzen die durch den Musikkonsum hinterlassenen Daten eigentlich haben, in gewisser Weise offen. Deutlich geworden ist, dass hierfür mindestens drei Akteure differenziert betrachtet werden müssen: Die Streamingservices, die Labels und die Nutzer*innen. Verändern die gesammelten Daten und die daraus KI-abgeleitete Analyse auch die gespielte Musik? Diese Frage ist bislang weitestgehend unbeantwortet und bedarf in Zukunft detaillierterer Analysen. Denn die Tatsache, dass Songs mindestens 30 Sekunden gespielt werden müssen, bevor Zahlungen überhaupt ausgeschüttet werden, kann zu einer Veränderung von Songstruktur und -dramaturgie führen, denn ein musikalischer Reiz, der die Hörer*innen schnell fesselt, muss in einem Lied zeitlich früh kreiert werden, um ein Skippen zu vermeiden.

Es ist noch längst nicht ausgemacht, inwiefern sich Musikkultur langfristig durch Empfehlungsalgorithmen verändern wird, zu vielfältig ist das angebotene Repertoire, zu differenziert scheint der eigene musikalische Geschmack. Aber sicher ist, dass immer mehr Daten gesammelt, analysiert und ausgewertet werden und mittelfristig sich damit die Nutzung von Musik im Alltag verändern wird.

Literatur

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Eriksson, M., Fleischer, R., Johansson, A., Snickars, P., & Vonderau, P. (2019). Spotify Teardown: Inside the Black Box of Streaming Music. MIT Press. https://mitpress.mit.edu/books/spotify-teardown
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Limper, J., & Lücke, M. (2013). Management in der Musikwirtschaft. Kohlhammer. https://shop.kohlhammer.de/management-in-der-musikwirtschaft-22146.html#147=22
Mulligan, M. (2021, July 9). Global music subscriber market shares Q1 2021. Music Industry Blog. https://musicindustryblog.wordpress.com/2021/07/09/global-music-subscriber-market-shares-q1-2021/
Prey, R. (2019). Knowing Me, Knowing You: Datafication on Music Streaming Platforms. In M. Ahlers, L. Grünewald-Schukalla, M. Lücke, & M. Rauch (Eds.), Big Data und Musik: Jahrbuch für Musikwirtschafts- und Musikkulturforschung 1/2018 (pp. 9–21). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21220-9_2
Ratliff, B. (2016). Every Song Ever. Twenty Ways to Listen in an Age of Musical Plenty. Farrarr Straus & Giroux. https://us.macmillan.com/books/9781250117991/everysongever
Statista. (2019). Smarte Lautsprechern in Deutschland 2019. Statista. https://de.statista.com/prognosen/983723/umfrage-in-deutschland-zum-besitz-eines-smart-speakers
Tschmuck, P. (2020). Ökonomie der Musikwirtschaft. Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29295-9

 

Zitation

Lücke, M. (2022). Wie werden digitale Spuren des Musikhörens genutzt und ausgewertet? Musik und Medien – Das Wissensportal. Online verfügbar unter : https://www.musikundmedien.org/2022/04/08/luecke_1/


Martin Lücke

Professor für Musikmanagement und Kulturmanagement am Campus Berlin der Hochschule Macromedia.