Warum wird das Live-Erlebnis im Bereich der Popularmusik heute so wertgeschätzt?

Veröffentlicht von Julian Kessler am

Die Live-Konzerte namhafter Künstler*innen und Bands im Bereich der Popularmusik sind aufgrund des riesigen Andrangs der Interessent*innen oftmals innerhalb kürzester Zeit komplett ausverkauft. Das Erleben von Musiker*innen auf der Konzertbühne übt heute eine große Faszination auf die Hörer*innen aus, weshalb einige von ihnen bereitwillig eine weite Anreise zum Live-Event ihrer Wahl auf sich nehmen. Zudem zahlen die Konzertbesucher*innen deutlich höhere Preise für Veranstaltungstickets als für physische oder digitale Tonträger bzw. für die Abonnements von Streaming-Dienstleistern. Um einen wissenschaftlichen Beitrag im Feld der Musik- und Medienwissenschaft zu leisten, soll dieser Artikel der Frage nachgehen, welche Rolle Live-Events für die drei relevanten Anspruchsgruppen Musiker*innen, Hörer*innen und Musikindustrie spielen und welche besonderen Eigenschaften zu der Popularität von Musik-Events beitragen. Der folgende Artikel bietet zunächst eine historische Übersicht über die Herausbildung und Entwicklung der Live-Kultur in der Popularmusik. Im Anschluss beleuchten mehrere wissenschaftliche Quellen ausgewählte Aspekte des Live-Erlebnisses für die verschiedenen Anspruchsgruppen. Dabei soll der Text auch auf die unterschiedliche Rezeptionswirkung von Live-Musik im Vergleich mit Tonträger-Musik bzw. Live-Streams in Zeiten der heute allgegenwärtigen netzbasierten Medien eingehen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit soll der Fokus dieses Artikels allerdings auf großen Konzerten und Festivals liegen.

Das reproduzierte ‚Original‘

Musikalische Tonträger erfuhren durch die Entstehung der Tonträgerindustrie Anfang des 20. Jahrhunderts und durch den Aufstieg der Rundfunkanstalten eine schnelle Verbreitung, die mit einer steigenden Bekanntheit gewisser Interpret*innen und einer zunehmenden Kommerzialisierung der Musikindustrie einherging . Während bis zum Ende des 19. Jahrhunderts alle musikalischen Performances noch ausschließlich audiovisuell rezipiert wurden, erfolgte durch Einführung dieser neuen Technologien eine Abspaltung der auralen (also hörbaren) Komponente von allen anderen Bestandteilen der Musik, darunter der visuellen Komponente . Dies führte zu einem erhöhten Interesse der Musikhörer*innen, die Interpret*innen bei der musikalischen Ausübung der durch die mediale Verbreitung bekannten Stücke in Echtzeit zu erleben . In den 1930er-Jahren etablierte sich schließlich der Begriff ‚Live-Musik‘, der Konzerte im Bereich der Popularmusik als Echtzeit-Reproduktionen eines imaginierten Originals, nämlich der Tonträgermusik, definierte. Die heutige Verwendung des Terminus ‚live‘ umfasst jedoch auch Konzertmusik, bei der vorproduzierte Melodien bzw. Playback-Hilfsmittel (wie etwa im Schlager oder in der elektronischen Tanzmusik) zum Einsatz kommen .

Der Niedergang der Tonträgerindustrie beflügelt die Konzertbranche

Die zu Beginn der 2000er Jahre einsetzende Digitalisierung stellt die Musikindustrie durch das Aufkommen von illegalen Tauschbörsen im Internet und Streaming-Diensten jedoch vor enorme Herausforderungen, da der Absatz durch den Verkauf von physischen Tonträgern seitdem kontinuierlich sinkt . In der Folge avancierte der Live-Sektor zur Haupteinnahmequelle vieler Künstler*innen . Allerdings hat der Niedergang der Vertriebseinnahmen durch Tonträger sogar einen positiven Effekt auf die Beliebtheit von Live-Konzerten: Der vereinfachte Zugang zur Musik führt zu einem erhöhten Interesse der Hörer*innen an Live-Shows und damit auch zu höheren Ticket-Einnahmen , wie der stetig steigende Umsatz in der deutschen Veranstaltungsbranche belegt . Diese Umsatzsteigerung hängt damit zusammen, dass die Konzertbranche auf die zunehmend wichtige finanzielle Relevanz von Konzerten mit steigenden Ticketpreisen reagiert , während sich bei den Besucher*innen großer Shows gleichzeitig eine erhöhte Zahlungsbereitschaft bemerkbar macht .

Das Live-Konzert als nicht-wiederholbares Ereignis

Was ist der Grund für diese Popularität von großen Live-Konzerten? Ein wichtiger Aspekt der Live-Erfahrung aus Konsumentensicht ist in erster Linie die körperliche Kopräsenz von Künstler*innen und Konzertbesucher*innen im selben physischen und sozialen Raum . Ihren besonderen Charakter erhalten Live-Konzerte in diesem Zusammenhang dadurch, dass sie einmalige Ereignisse darstellen, die nicht-wiederholbar und nicht alltäglich sind . Diese Annahme deckt sich mit den Ergebnissen einer qualitativen Studie , in der 249 Teilnehmer*innen drei Hauptgründe nennen sollten, warum sie selbst Konzerte besuchen. Besonders viele Antworten thematisierten die Nähe zu den Musiker*innen, die visuelle Stimulation (also die Performance der Künstler*innen und Licht-Shows), sowie die Einzigartigkeit des Events. Weitere Teilnehmer*innen nannten die ‚Neuartigkeit‘ des Konzerts als einen wichtigen Beweggrund. Besonders entscheidend hierbei war für die Befragten die Unvorhersehbarkeit eines Events, darunter vor allem der Live-Sound, der sich zuweilen deutlich von der Tonträger-Produktion unterscheidet. Die soziale Dimension eines Live-Konzerts ist ein weiterer entscheidender Faktor der Studie. Dazu zählt laut den Teilnehmer*innen das gemeinsame Rezipieren der Live-Musik mit gleichgesinnten Leuten, die denselben Musikgeschmack teilen . Interpersonelle Beziehungen durch Gruppenbildung sind demnach ein wichtiges Motiv, um Konzerte bzw. Festivals zu besuchen . Auf Musik-Events hat das Publikum zudem die Möglichkeit, direkt mit den performenden Künstler*innen zu interagieren und sich beispielsweise rhythmisch zu deren Musik zu bewegen, wodurch sie mit den Performern eine verbindende Gemeinschaft bilden . Auf der anderen Seite können die Musiker*innen die beidseitige Beziehung in der Live-Situation durch das direkte Adressieren des Publikums stärken .

Das Status-Symbol von Live-Konzerten

Einen großen Anreiz stellt im Zusammenhang mit der sozialen Komponente das Teilen der eigenen Live-Erfahrung innerhalb des eigenen Freundeskreises dar, mit dem sich die Konzertbesucher*innen Status und Anerkennung sichern . Im Zuge der Digitalisierung und der damit einhergehenden zunehmenden Relevanz der ‚sozialen Medien‘, wie Facebook, Instagram und Twitter, haben Anwesende eines Live-Konzerts die Möglichkeit, unmittelbares Feedback auf die geteilten Fotos oder Videos des erlebten Events in Form von Likes zu erhalten . Für das Filmen bzw. Fotografieren und das anschließende Teilen des gerade besuchten Konzerts im Internet nehmen die jeweiligen Personen sogar in Kauf, ein geringeres Unterhaltungserleben während des Events selbst zu verspüren .

Niedrigeres Präsenzerleben bei medialen Reproduktionen

Doch wie unterscheiden sich selbst erstellte Videoaufnahmen und Live-Streams von der Live-Erfahrung im Konzert? Medial vermittelte Musik-Events stellen aufgrund der hochwertigen Medientechniken heutzutage der Realität sehr nahekommende Reproduktionen dar. Jedoch bieten diese nicht dasselbe Präsenzerleben, das Konzertbesucher*innen in der Live-Situation erfahren. Dies liegt daran, dass die für ein Musik-Event so wichtige Kopräsenz und soziale Interaktion mit den Künstler*innen sowie den anderen Personen im Publikum fehlt . Außerdem geht beim Konsum von reproduzierten Konzerten das Gefühl der Einzigartigkeit und Nicht-Wiederholbarkeit des Gesehenen verloren, das bei Musik-Shows in Echtzeit auftritt . Dieselben Probleme treffen auch auf virtuell erlebbare Konzerte zu, die mithilfe von Virtual-Reality-Brillen durch realitätsgetreue visuelle Stimuli zwar ein bestmögliches Präsenzerleben liefern sollen, jedoch keine Übermittlung von körperlichen Erfahrungen (wie beispielsweise Gerüchen oder Wetterbedingungen) ermöglichen . Gleichwohl entsteht zurzeit ein wachsender Markt für derartige virtuelle Konzerte. Sollte dieser Trend anhalten, muss sich die Musikindustrie diesem Konsumverhalten anpassen und vermehrt VR-Konzerte anbieten. Diese Produkte könnten dann – ähnlich wie die Tonträgerveröffentlichungen – als ein Promotionsmittel eingesetzt werden, um die Nachfrage nach Live-Konzerten zu steigern .

Die Werbewirkung von Live-Auftritten

Die ausübenden Interpret*innen können von der zunehmenden Verschmelzung der realen Konzertsituation mit der digitalen Sphäre finanziell profitieren. Eine Studie untersuchte beispielsweise das Twitter-Verhalten von Konzertbesucher*innen über verschiedene Konzerte im Rahmen des Øya Festivals in Norwegen und dessen Auswirkung auf die Streaming-Aufrufe der Stücke der jeweiligen Künstler*innen vor und nach dem Auftritt. Es zeigte sich, dass eine insgesamt positive Bewertung von Konzerten auf Twitter eine Steigerung der Streaming-Zahlen der performenden Acts bewirkte. Nach Auffassung der Studienleiter*innen lässt sich daraus schließen, dass die Qualität der Live-Erfahrung höchstwahrscheinlich Auswirkungen auf den Konsum von Tonträgermusik hat . Dadurch ergeben sich wiederum positive (Werbe-)Effekte, die zu einem gesteigerten Interesse an Live-Konzerten und damit zu höheren Besucherzahlen führen. Da Musiker*innen mit ihren Releases im Vergleich zur vordigitalen Zeit ohnehin nur noch niedrige Einnahmen erzielen können, begreifen sie ihre Veröffentlichungen vorrangig als ‚Werbe‘-Plattform, mit der sie möglichst viele Fans zu ihren Live-Shows bewegen und ihre Profite maximieren können .

Anhaltende Popularität von Musik-Shows

Mit großer Wahrscheinlichkeit werden große Musik-Events auch in Zukunft nicht an Relevanz verlieren. Für diese Prognose spricht, dass Konzerte soziale und zeitlich einmalige Ereignisse darstellen, die unter Zuhilfenahme von visuellen Hilfsmitteln und nicht-vorhersehbaren Elementen das gegenseitige Verhältnis der Künstler*innen mit den Konzertbesucher*innen nachhaltig stärken. Außerdem betrachten viele Menschen den Besuch von Live-Konzerten auch weiterhin als ein Status-Symbol, mit dem sie innerhalb ihres Freundeskreises Anerkennung finden, sei es im realen Leben oder in den Sozialen Medien. Diese Eigenschaften grenzen das Live-Erlebnis deutlich von medialen Reproduktionen ab, denen es allen voran an der sozialen Dimension des gemeinsamen Erlebens in einer Gruppe und an der körperlichen Kopräsenz mangelt. Gerade im Hinblick auf die positiven emotionalen Erfahrungen, die Konzertbesuche – zumindest bei großen Musik-Events und Festivals – mit sich bringen, wird die Zahlungsbereitschaft der Konsument*innen und in der Folge auch der Umsatz in der Live-Musik-Branche weiterhin steigen.

Literatur

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Zitation

Kessler, J. (2020). Warum wird das Live-Erlebnis im Bereich der Popularmusik heute so wertgeschätzt? Musik und Medien – Das Wissensportal. Online verfügbar unter https://www.musikundmedien.org/2020/11/14/kessler_1/

Kategorien: EreignisKultur

Julian Kessler

Absolvent des Master-Studiengangs „Medien und Musik“ an der HMTM Hannover und freier Mitarbeiter bei regioactive und Backstage Pro