Wie funktionieren die Charts im Zeitalter des Musikstreaming?

Veröffentlicht von Tim Fischer am

Die Musikcharts sind weltweit die zentrale Methode, um den Erfolg von Singles oder Alben am Musikmarkt zu messen. Für die Erhebung der Charts gibt es verschiedene Methoden und Maßstäbe, die je nach Chartliste variieren können. Gerade die Digitalisierung ermöglicht mit Blick auf Streaming- und Downloadzahlen neue Erhebungsoptionen. Vor allem auch Chartlisten von digitalen Dienstleistern wie Spotify oder iTunes sind für die Musikindustrie von großer Wichtigkeit. Mit den Erhebungsmethoden und den Anbietern von Musikcharts hat sich durch die Digitalisierung auch die Bedeutung von Musikcharts für die Musikindustrie geändert und stellt diese vor neue Herausforderungen. Hohe Chartplatzierungen sorgen für größere öffentliche Sichtbarkeit von Künstler*innen, die das Interesse an ihnen weckt und die Chancen auf weitere mediale Platzierungen erhöht. Chartplatzierungen können daher zum Erfolgskatalysator werden. Fragen wie „Wie funktionieren die Charts?“, „Wer stellt Chartlisten zur Verfügung?“, „Wie kann auf die Chartplatzierung Einfluss genommen oder gar manipuliert werden?“ sind für Künstler, Musiklabels und Musikpromoter daher noch immer von hoher Relevanz. Der vorliegende Artikel geht genau diesen Fragen nach und geht dabei explizit auf die Veränderungen ein, welche die Digitalisierung im Bereich der Musikcharts mit sich gebracht hat. Der Beitrag wird sich auf die US-amerikanischen und die deutschen Charts konzentrieren. Dabei wird er sich zunächst mit der Geschichte der Charts im Allgemeinen befassen. Anschließen werden die verschiedenen Erhebungsmethoden beleuchtet und ein Blick auf die Funktionsweise der Charts geworfen. In einem nächsten Schritt wird auf Veränderungen durch Streaming eingegangen. Darauf bezogen werden in einer abschließenden Diskussion auch Risiken und Chancen für die Musikindustrie durch Charts erörtert und ein Ausblick in die Zukunft der Musikcharts gewagt.

Entstehung, Funktion und Entwicklung der Musikcharts

Musikcharts bilden eine Rangliste aufgenommener, produzierter und vertriebener populärer Musiktitel, die über einen festgelegten Zeitraum nach unterschiedlichen, meist kommerziell relevanten Indikatoren geordnet werden. Zu den typischen Indikatoren gehören Verkäufe, Airplay- sowie Download- und Streaming-Zahlen. Häufig werden für die Erstellung der Listen mehrere Indikatoren in Kombination ausgewertet. Charts gelten dabei als ein objektives Maß für den Erfolg und die Beliebtheit von Musik und dienen als Orientierungssystem innerhalb des Popmusikgeschehens. Sie sind Marktforschungsinstrument der Musikbranche, Barometer für Musik-stilistische Trends und Grundlage für Auswahlentscheidungen von Konsumenten und den Handel . Ihren Ursprung haben die Charts in den USA. Hier veröffentlichte das Branchen-Magazin Billboard ab 1913 wöchentlich Verkaufszahlen von Notenblättern. Später kamen Bestseller-Charts von Plattenlabels, Auflistungen mit den in Jukeboxen beliebtesten Schallplatten und 1936 schlussendlich die ersten Single-Hitparaden hinzu. 1956 veröffentliche Billboard in einer Top 10 erstmals auch Album-Charts. Heute organisiert Billboard seine Charts in einer Vielzahl unterschiedlicher Listen . Zu den wichtigsten Chartlisten gehören die genreübergreifenden Billboard Hot 100 Single-Charts und Billboard 200 Album-Charts. Daneben gibt es genrespezifische Listen, die unter anderem in den Kategorien Pop, Country, Rock, R&B/Hip-Hop, Latin, Dance/Electronic, Christian/Gospel, Classical und Jazz organisiert sind. Die Listen erscheinen in der Regel immer dienstags in einem wöchentlichen Zyklus. Allerdings stellt Billboard auch Jahres-, Dekaden- und Greatest of All Time-Charts bereit.

In Deutschland wurden die erste Single-Charts ab 1954 von dem Magazin Der Automatenmarkt als Statistiken über den Einsatz von Single-Platten in Musikboxen veröffentlicht. Die Zeitschrift Musikmarkt übernahm ab 1959 die Veröffentlichung von Verkaufslisten in einem zunächst monatlichen, dann 14-tägigen und ab 1971 wöchentlichen Rhythmus. 1977 wurde im Auftrag des Bundesverbandes Phono (heute Bundesverband Musikindustrie) das Unternehmen Media Control gegründet, um die Erhebung der „offiziellen deutschen Charts“ zu übernehmen. 2003 stieg die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) mit in die Chartermittlung ein und übernahm diese ab 2013 gänzlich . Die wichtigsten Chartlisten der offiziellen deutschen Charts sind die Top 100 Single-Charts und die Top 100 Album-Charts, die ebenso wie ihre US-amerikanischen Äquivalente genreübergreifend erhoben werden. Daneben gibt es genrespezifische Charts, die in den Kategorien Klassik, Schlager, Jazz, Hip-Hop, Dance und Comedy organisiert sind und medienspezifische Charts (Compilation-, Vinyl-, Download- und Streaming-Charts). Eine Chartwoche, und somit auch der Erhebungszeitraum, geht immer von Freitag bis Donnerstag. Dieser Zeitraum wurde 2005 gewählt, damit Neuerscheinungen zu Beginn des Wochenendes auf den Markt kommen können, da Wochenenden im Tonträgerverkauf in der Regel umsatzstärker als Werktage sind. Diese wöchentlichen Listen werden immer freitags veröffentlicht. Zusätzlich werden auch Daily Trend-, Midweek- und Jahres-Charts zur Verfügung gestellt. Neben den offiziellen Charts gibt es auch noch Charts von einzelnen Download- und Streaming-Plattformen (wie iTunes, Amazon, Spotify), Einzelhändlern (wie MediaMarkt oder Saturn) oder auch journalistischen Formaten, deren Listen allerdings entweder auf eigenen Verkaufs- bzw. Streaming- Zahlen beruhen oder lediglich die subjektiven Lieblinge einer Redaktion bzw. einer Leserschaft abbilden. Sowohl das Billboard-Magazin als auch die offiziellen deutschen Charts nehmen für sich in Anspruch, die einzigen für das jeweilige Land repräsentativen Musik-Charts zu sein. Dies begründet sich vor allem auf die Erhebungsmethoden der Listen, die im Folgenden genauer beleuchtet werden.

Wie werden Chartplatzierungen berechnet?

Musikcharts sind Statistiken und müssen daher auch statistische Anforderungen erfüllen. Die Erhebungsgrundlage sollte also intersubjektiv nachvollziehbare Daten liefern und quantifizierbar sein. Möglich sind dabei prinzipiell Erhebungsmethoden, welche die Grundgesamtheit abbilden (Totalerhebung), oder repräsentative Stichprobenziehungen. Es gibt ferner verschiedene Indikatoren, die bei der Erstellung von Chartlisten erhoben werden. Häufig wird eine Kombination von Indikatoren verwendet, die bei verschiedenen Datenanbietern auch systematisch unterschiedlich ausfällt. Deswegen sind die Charts verschiedener Auftraggeber*innen nie identisch. Häufig erhobene Indikatoren sind die Verkaufszahlen, das Airplay (die Häufigkeit der Rundfunkaufführung) und Download- oder Streaming-Zahlen. Während das Airplay über Auswertung der Playlisten, welche die Rundfunk- und TV-Stationen bei den nationalen Verwertungsgesellschaften einreichen müssen, erhoben wird, nehmen Verkaufscharts in der Regel die Verkaufszahlen des Handels an die Endverbraucher*innen zur Grundlage. Das Billboard-Magazin etwa aggregiert und analysiert für seine Charts Verkaufszahlen, Airplay und Streaming-Daten.

Die Verkaufszahlen werden für Billboard von dem Marktforschungsunternehmen Nielsen Media Research erhoben und stammen aus einem Einzelhändlerpool, der über 90% des US-Musikeinzelhandelsmarkt repräsentiert. Nielsen erfasst dabei die Verkaufszahlen über die Kassensysteme von Musikgeschäften, Musikabteilungen in Elektronikgeschäften und Kaufhäusern, Direktverkäufen und Internetverkäufen (sowohl physischer Verkauf als auch, seit 2005, die Downloads). Das Airplay wird ebenfalls von Nielsen erhoben. Hierfür trackt Nielsen Radiostationen in über 140 Märkten in den USA. Dafür sucht das Nielsen Music System nach sogenannten Audio-Fingerprints, die jeden abgespielten Titel eindeutig identifizierbar machen. Einige Charts basieren auf der Häufigkeit, mit der ein einzelner Song abgespielt wurde, andere beruhen auf den Audience Impressions von Titeln. Diese sind als Interaktion von Rezipient*innen mit medialen Inhalten definiert. Die Interaktion kann dabei auch beiläufig geschehen. Konkret bedeutet das hier, wie viele Menschen mit einem Song, gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst, in Berührung kommen. Wird ein Song im Radio gespielt, kann dieser beispielsweise bewusst im Auto auf dem Weg zur Arbeit wahrgenommen werden, er kann aber auch in einer Supermarktkette beim Einkaufen gespielt werden, ohne dass er die volle Aufmerksamkeit der Rezipienten erhält . Dafür hat Nielsen ein Bewertungssystem entwickelt, um die ungefähre Anzahl der Audience Impressions für jedes Stück zu ermitteln. Ein Lied wirkt sich beim Spielen um 4 Uhr morgens nicht so sehr auf die Chartplatzierung aus, wie um 16 Uhr nachmittags, ebenso wie ein Sender mit großem Publikum die Charts durch das Spielen von Songs mehr beeinflusst als ein Sender mit kleinerem Publikum .

Seit 2007 lässt Billboard auch Streaming-Daten mit in ihre Charts einfließen. Um die Streaming-Nutzung zu erheben, sammelt Billboard Daten der wöchentlich meist gestreamten Songs aus On-Demand-Wiedergaben von Download- und Streaming-Anbieter*innen (zunächst vor allem AOL und Yahoo! Music, seit 2013 auch neuere Anbieter*innen wie Spotify), Online-Radio und seit 2013 auch die US-Plays von Musikvideos auf YouTube. Seit 2018 werden Streams über ein bezahltes Nutzerkonto höher gewichtet als Streams, die kostenlos oder werbefinanziert sind. Werbefinanzierte Streams sind wiederum höher gewichtet als programmiertes Webradio . Billboard erstellt für die meisten ihrer Kategorien separate Listen für Verkaufszahlen, Airplay und Streaming. Die wichtigsten Charts sind allerdings jene, wo Billboard die verschiedenen Daten in Kombination analysiert, um die Platzierungen festzulegen. Für diese Hybrid-Charts wurden spezifische Formeln entwickelt, die Verkaufs-, Airplay- und Streaming-Daten mischen. Die einzelnen Datenkategorien sind dabei unterschiedlich gewichtet. Um möglichst präzise Charts erstellen zu können hat Billboard die Gewichtung der jeweiligen Faktoren immer wieder geändert und an die aktuelle Marktsituation angepasst. Die Hot 100 strebt aktuell ein Verhältnis von 35-45% Verkäufe, 30-40% Airplay und 20-30% Streaming an. Das genaue Verhältnis kann sich jedoch von Woche zu Woche ändern .

Die GfK greift für die Erstellung der offiziellen deutschen Charts auf die Erhebung von Verkäufen und Streaming-Zahlen zurück. Airplay-Charts werden ausschließlich separat erstellt und fließen in andere Chart-Kategorien nicht mit ein. Die Auswertung der offiziellen deutschen Charts wurde 2007 auf die sogenannten Werte-Charts umgestellt. Seitdem sind nicht mehr die absoluten Verkaufszahlen für eine Chartplatzierung ausschlaggebend, sondern das Produkt, dass den meisten Umsatz erzielt hat. Das heißt, dass nicht mehr unbedingt das am häufigsten gekaufte Produkt an der Spitze steht, sondern jenes, für das am meisten Geld ausgegeben wurde, für welches das Publikum also bereit war am meisten zu zahlen. Ob durch diese Umsatzorientierung noch die tatsächliche Beliebtheit von Künstlern und deren Musik abgebildet werden kann, ist fraglich. Diese Abkehr von den Verkaufszahlen ist weltweit einzigartig. Erfasst werden die Umsatzzahlen auf elektronischem Wege über den Dienstleister Phononet. Die Kassensysteme von Einzelhändlern, die mit Phononet verbundenen sind, übertragen so ihre Verkaufsdaten an die GfK. Berücksichtigt werden dabei sowohl große Elektronikfachhändler als auch kleine Plattenläden und Online-Shops. Nach eigenen Angaben der GfK nehmen rund 2.800 Händler an der Chartermittlung teil, was einer Marktabdeckung von über 90% entspricht. Die Verkaufszahlen von Downloads oder Streaming-Plays werden hingegen direkt von den Anbietern an die GfK übermittelt.

Die Airplay-Charts werden seit 2015 durch die Firma MusicTrace ermittelt. Um die Airplay-Daten zu erheben konzentriert sich die MusicTrace auf sowohl öffentlich-rechtliche als auch private Rundfunksender mit großer Reichweite. Songs, die in den Airplay-Charts Erwähnung finden sollen, müssen MusicTrace als Datei vorliegen und in ihr Überwachungssystem eingepflegt werden. MusicTrace erstellt dann mit Hilfe des Audiosignals einen digitalen Fingerabdruck eines jeden Titels. Anhand dieser Fingerabdrücke überwacht MusicTrace die im Airplay-Panel enthaltenen Radiosender und ermittelt so die Spielzahlen für jeden eingereichten Song. Gezählt werden Einsätze ab 90 Sekunden. Je nach Tagesreichweite der Sender werden die Einsätze unterschiedlich gewichtet. Einsätze zwischen 24:00 Uhr und 05:59 Uhr erhalten außerdem lediglich 5% dieses Gewichts. Dabei entspricht 1 Punkt etwa 1 Millionen Hörer*innen. Einen Bonus erhalten Lieder, die erstmalig in die Top 20 der formatübergreifenden Airplay-Charts einsteigen. Diese Songs werden zehn Wochen lang beim Abspielen zwischen 06:00 Uhr und 23:59 Uhr mit 0,5 Punkten und zwischen 24:00 Uhr und 05:59 Uhr mit 0,125 Punkten extra bewertet. Die addierten Punkte sind dann Grundlage für die Chart-Platzierung .

Sowohl in den US-amerikanischen Billboard Charts als auch in den deutschen Charts hat das Streaming über die letzten zehn Jahre seinen Weg in die Chart-Ermittlungsverfahren gefunden. Streaming ist allerdings mit klassischen Verkaufszahlen nicht so leicht gleichzusetzen. Besonders in den deutschen Werte-Charts, in denen es nicht um die Anzahl der verkauften Tonträger geht, sondern um den Umsatz, der aus diesen generiert wird, stellt sich die Frage: Wie viel Wert ist eigentlich ein Stream und wie genau fließt Streaming in die Chart-Ermittlung ein?

Wie werden Streamingzahlen in die Charts integriert?

Da die deutschen Charts in umsatzbasierte Werte-Charts umgewandelt wurden und die GfK seit 2014 auch Streaming in die Single-Charts-Ermittlung, seit 2016 in die Album-Charts, einfließen lässt, musste sich die GfK einen Weg überlegen, den Umsatzwert von Streams festzulegen. Welchen „Umsatz“ generiert also ein Stream? Und wie viele Streams gelten als ein gekauftes Album? Die GfK hat sich eine Formel einfallen lassen, um diesen Wert zu berechnen. Da die deutschen Charts Umsätze von Musik widerspiegeln hat sich die GfK dazu entschieden lediglich Streams von Premium-Services für die Chart-Ermittlung zu werten. Das heißt, dass lediglich Streams von bezahlungspflichtigen Anbietern, bzw. Streams die von bezahlten Accounts auf Hybrid- Anbieter -Plattformen getätigt werden, in die Ermittlung mit einfließen. Werbefinanzierte Streams bleiben unberücksichtigt. Ebenso werden „nicht-interaktive“ Streams auf Premium-Plattformen nicht einbezogen. Nicht-interaktiv bedeutet, dass die Nutzer*innen einen Song nicht selbst ausgewählt haben, sondern dieser sie auf algorithmischem Wege erreicht hat. Weiterhin werden Streams erst ab der 31. Sekunde gewertet. Dies ist auch die Grenze, ab der die Künstler*innen eine Gewinnausschüttung von den Anbietern erhalten. Aus diesen Streams wird dann der Wert eines einzelnen Streams in Euro errechnet. Dafür wird die Anzahl der deutschen Premium-Accounts mit dem durchschnittlichen Premium-Abo-Preis multipliziert und durch die Anzahl der durch Premium-Nutzer*innen getätigten Streams geteilt. Dieser errechnete Umsatz fließt dann pro Stream in die Single-Charts-Ermittlung ein .

Für die Album-Charts werden nur die zwölf meistgespielten Songs eines Albums gewertet. Wenn ein Album mehr als zwölf Titel besitzt, fallen die übrigen aus der Wertung heraus. Zusätzlich werden die zwei meistgestreamten Titel aus der tatsächlichen Wertung ausgenommen. Die Begründung der GfK dazu ist, dass so Ausreißer eliminiert werden können, und diese beiden Songs bereits einen starken Einfluss auf die Single-Charts haben. Es müssen außerdem mindestens sechs Songs gestreamt werden. Um den Umsatz für die Album- Chartwertung festzustellen wird die Summe der Streams der übriggebliebenen zehn Songs mit dem Faktor zwölf multipliziert und dann durch zehn geteilt. Das Ergebnis wird wiederum mit dem Euro-Wert eines einzelnen Streams multipliziert .

Die Billboard-Charts, die ja eigentlich nach verkauften Einheiten ermittelt werden, haben sich in Sachen Streaming den Werte-Charts angenähert. Bis 2018 kategorisierte Billboard Streams in zwei Stufen: On-Demand-Streams, also vom Nutzer*innen selbst ausgewählte Songs, und programmierte Streams, also Titel, auf deren Abspielen die Nutzer keinen direkten Einfluss haben (z.B. bei Streaming über den Internetradioanbieter Pandora, der Titel algorithmusbasiert nach dem Musikgeschmack von Nutzer*innen auswählt). Erstere Kategorie erhält eine höhere Gewichtung bei der Single-Charts-Ermittlung als programmierte Streams. Für die Ermittlung der Album-Charts galten 1.500 Streams als ein verkauftes Album. Video- und programmierte Streams blieben dabei unberücksichtigt. Seit 2018 benutzt Billboard eine neue Formel, die Streams in drei Stufen kategorisiert. Werbefinanzierte Streams bleiben seitdem zwar, nicht wie in den deutschen Charts unberücksichtigt, sie werden allerdings geringer gewichtet. Für die Single-Charts zählt ein bezahlter Stream nun einen vollen Punkt, ein werbefinanzierter Stream ist 2/3 Punkte wert, und ein programmierter Stream einen halben Punkt. Für die Album-Charts gilt, dass 1.250 bezahlte Streams oder 3.750 werbefinanzierte Streams einem verkauften Album gleichgesetzt werden .

Chartmanipulation durch Streaming-Dienste?

Seitdem Streaming-Zahlen in die Ermittlung der Charts mit einfließen, gibt es immer wieder Vorwürfe bezüglich einer Manipulation von Streaming-Zahlen, was somit auch die Charts verzerren könnte. Dass die Manipulationen auf dem Streaming-Musikmarkt tatsächlich existieren, wurde im letzten Jahr laut dem Musikjournalisten Christoph Reimann einhellig auf der A2IM Indie Week, dem größten Branchen-Treffen der unabhängigen Musikindustrie festgestellt. Die Manipulationen betreffen künstlich in die Höhe getriebene Klickzahlen, was über Fake-Accounts, gestohlene Accounts oder den Einsatz von Algorithmen erreicht werden kann. Ein Beispiel dafür aus den Billboard Charts sind die Alben Lemonade von Beyoncé und The Life of Pablo von Kanye West. Beide Alben wurden zuerst exklusiv auf dem Streaming-Dienst TIDAL veröffentlicht. TIDAL gab nach der Veröffentlichung der Alben an, dass The Life of Pablo in den ersten zehn Tagen nach Veröffentlichung 250 Millionen Mal abgespielt und Lemonade in den ersten 15 Tagen 306 Millionen Mal abgespielt worden sei. Die norwegische Zeitung Dagens Næringsliv fand allerdings heraus, dass alle diese Zahlen falsch waren. Mittels einer Analyse konnten die Journalisten auffällig regelmäßige Muster in den Streaming-Daten erkennen. Bei einer anschließenden Befragung der Nutzer konnte dann rekonstruiert werden, dass diese in der Zeit, in der sie eigentlich die Alben von Kanye West und Beyoncé gehört haben sollten, tatsächlich schliefen oder anderen Aktivitäten nachgegangen waren. Somit konnte festgestellt werden, dass einige der Nutzer-Accounts offensichtlich manipuliert wurden und die Alben mit Hilfe von Algorithmen ‚abgespielt‘ wurden .

Ein anschauliches Beispiel zur Manipulation der deutschen Charts über Streaming-Dienste lieferte darüber hinaus im letzten Jahr eine Reportage des Y-Kollektivs. In dem Beitrag tritt ein Hacker an das Kollektiv heran, der behauptet von Künstler- und Label-Managern aus der Deutsch-Rap Szene beauftragt worden zu sein, für möglichst hohe Aufrufzahlen bei Streamingdiensten wie Spotify oder YouTube zu sorgen. Dafür würde er tausende Nutzer-Profile hacken und einen bestimmten Song algorithmusbasiert immer wieder abspielen lassen. In einem Selbstversuch inszenierte sich der Reporter Ilhan Coskun als Rap-Künstler, nahm einen Song mit Video auf und veröffentlichte diesen auf allen relevanten Streaming-Plattformen. Nach dem Anwenden der Methoden des Hackers erreichte der Titel nach nur wenigen Tagen 100.000 Streams bei Spotify und 200.000 bei YouTube . Tatsächliche Beachtung in den veröffentlichten Charts fand der Song allerdings nicht, da die Prüfmechanismen der GfK die Unregelmäßigkeiten beim Streamen erkannten.

Relevanz von Charts für die Musikbranche – heute und in Zukunft

Musik-Streaming stellt die Charts vor neue Herausforderungen. Besonders in den deutschen Werte-Charts stellt sich dabei die Frage, wie viel ein Stream eigentlich wert ist. Die Chart-Verantwortlichen haben sich daher wie beschrieben eine Formel überlegt, Streams in finanziellen Umsatz umzurechnen. Die Angaben und Erläuterungen, die zu der Formel veröffentlicht wurden, lassen allerdings einiges unklar. Gibt es einen einheitlichen Wert für Streams von egal welcher Plattform oder wird der Stream-Wert plattformabhängig bestimmt? Wird der Wert für jeden Song separat bestimmt? Bei der Hochrechnung von Streams auf die Album-Einheit stellt sich die Frage, ob die Rechnung auf die Anzahl der vorhandenen Titel angepasst wird. Ist dies nicht der Fall, hätten Alben mit weniger als zwölf Songs einen klaren Nachteil.

Klassischerweise werden zudem Singles und Alben auf Tonträgern nur ein einziges Mal pro Kauf für die Charts gewertet. Wie oft Titel tatsächlich wiedergegeben werden ist für die Erhebung irrelevant und auch außerhalb des Erhebungsmöglichen. Bei Streaming-Diensten sieht dies allerdings anders aus. Hier kann ein*e und der/dieselbe Nutzer*in einen Song immer wieder und wieder hören und es ergibt jedes Mal wieder einen chart-relevanten Klick. Dies lässt daran zweifeln, ob die Charts ihrem Anspruch, die beliebtesten Musiktitel darzustellen, immer noch gerecht werden, oder nur ein bestimmtes, Streaming-affines Klientel bedienen.

Weiterhin ist seit der Umstellung auf die Werte-Charts das Phänomen zu beobachten, dass Künstler*innen ihre Alben häufig über Deluxe-Boxen vermarkten, die neben dem Album zusätzliche Merchandise- Artikel enthalten und teilweise um ein Vielfaches teurer sind als einzelne Alben. Der Grund dafür: Je teurer die Einheit, desto gewichtiger ist sie in den Charts. Unabhängig von der absoluten Zahl der Rezipient*innen. Vor allem Hip-Hop Künstler*innen haben diesen Trick schon früh für sich erschlossen, weshalb es kaum noch eine*n deutsche*n Rapper*in gibt, der/die sein/ihr Album nicht mit kleinen Extras schmückt. Die Album-Charts belohnen dies durch hohe Platzierungen: Im Jahr 2019 kamen 18 von 48 Top-1 Alben aus dem Deutsch-Rap Genre. Die GfK versucht dies inzwischen zu regulieren, indem bei chartzulässigen Verkäufen der Wert von Bonusinhalten den Wert der Musik nicht übersteigen darf. Außerdem gehen Alben mit einem Verkaufswert von über 50€ pro Einheit trotzdem nur als 50€ in die Erhebung ein. Für einige klassische Nutzer*innen der Charts, scheint dies aber nicht genug zu sein. Da HipHop bei der Bewertung von Radio-Hörer*innen weniger gut ankommt, hat z.B. Radio Hamburg die offiziellen deutschen Charts, die sonst immer zur Orientierung für die Musikrotation diente, gekündigt. Stattdessen werden vermehrt Anbieter-Charts von Spotify, iTunes oder Shazam berücksichtigt. Auch beim SWR sind heute im Segment Titel aus den aktuellen Charts nur noch 16% tatsächliche Chart-Songs zu hören, wohingegen es 2016 noch 37% waren .

Die Orientierungsfunktion der offiziellen Charts für die deutsche Radiolandschaft scheint also zurückzugehen, was insgesamt auf die Veränderungen im Bereich des klassischen Formatradios verweist. Während es in den deutschen umsatzorientierten Charts durchaus Sinn ergibt, dass lediglich Premium-Streams Beachtung finden, erscheinen die Abstufungen zwischen bezahlten, werbefinanzierten und programmierten Streams in den Billboard-Charts fast willkürlich. Die Meinung in der US-amerikanischen Musikindustrie scheint zu diesem Thema gespalten. Der Musikproduzent und Unternehmer Jimmy Iovine befürwortet die Abstufung, da er Künstler*innen so ermutigt sieht, Musik zu komponieren, die von ihre Fans Wertschätzung in Form von Geldzahlungen erhält, so dass Künstler*innen so wieder das Gefühl bekämen, mit aufgenommener Musik Geld verdienen zu können . Der YouTube Manager Lyor Cohen hingegen kritisiert diese Sichtweise. Seiner Meinung nach sollten die Charts das Engagement der Fans mit der Musik widerspiegeln, unabhängig davon, ob sie dafür bezahlen oder werbefinanziert an die Musik gelangen . Da die Billboard-Charts auch Airplay-Daten mit in die Erhebung einfließen ließen, bei denen die Rezipient*innen auch nicht bezahlten, würde es durchaus Sinn machen, Streams ebenso zu behandeln.

Durch das Aufkommen von Streaming-Anbieter*innen und die Integration dieser in die Charts, stellt sich zusammengenommen die Frage der kommerziellen und kulturellen Relevanz von Charts auf ganz neue Weise. Während sie früher zur Orientierung innerhalb der Industrie und für den Rundfunk dienten, scheinen sie heute eher wichtig für die Künstler*innen zu sein, um Prestige zu erwerben und die Musik besser vermarkten zu können. Grundsätzlich ist allerdings gesellschaftsweit ein Trend zur stärkeren Nutzung Streaming-Diensten beim Musikhören zu erkennen . Daher scheint es unerlässlich Streamingdaten für eine relevante Charterhebung mit zu beachten. Tatsächlich könnte Streaming in den nächsten Jahren irgendwann die Nutzung von Tonträgern und Rundfunk zum Musikhören überflügeln, in Bezug auf Umsätze ist dies in einigen Marktsegmenten längst der Fall. Die Frage wäre dann, ob es noch Sinn macht, Streaming zusammen mit Airplay auf klassische Album- und Single-Verkäufe umzurechnen, um am Ende eine einzige Chartliste zu erhalten oder ob der Fokus eher auf Indikatoren-spezifische Erhebungen gerückt werden sollte. So können Nutzer*innen von Charts einfach den für sie relevantesten Vertriebsweg von Musik betrachten.

Literatur

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Reimann, C. (2019, June 25). Wie auf Streamingdiensten manipuliert wird - Die Gier nach Tantiemen. Deutschlandfunk Kultur.
Schmich, M. (2019, October 8). Musik-Charts: "Ja, es gab tatsächlich manipulierte Zugriffe". RADIOSZENE.
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Trust, G. (2013, September 29). Ask Billboard: How Does The Hot 100 Work? Billboard.

 

Zitation

Fischer, T. (2020). Wie funktionieren die Charts im Zeitalter des Musikstreaming? Musik und Medien – Das Wissensportal. Online verfügbar unter https://www.musikundmedien.org/2020/11/23/fischer_1/


Tim Fischer

Student im Master-Studiengang „Medien und Musik“ an der HMTM Hannover, Hobbymusiker und -fotograf, zurzeit Werkstudent in der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz Gemeinschaft